Tagung: „Ambivalenz der Archive“
Das Archiv als Ort der Wissensproduktion
17./18.1.2008 - Tagung des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und dem Berliner Medizinhistorischen Museum an der Charité
Ort: Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums / Charité
In der jüngeren Vergangenheit wurden zahlreiche Datenbanken veröffentlicht, die Digitalisate historischer Archive über das World Wide Web zugänglich machen. Die Anstrengungen, die auf der Ebene der EU in diese Richtung unternommen werden, deuten darauf hin, dass sich dieser Trend noch verstärken wird. Die Datenbanken ermöglichen mit einem Schlag den Zugriff auf Tausende von Objekten, die bisher dem interessierten Betrachter in der Regel nicht oder nur mit erheblichem Aufwand zugänglich waren. Eine digitalisierte Repräsentation dessen, was jahrzehntelang in den Kellern und Fluren meist verschlossener Archive lagerte, ist nun über ein Webinterface problemlos weltweit einsehbar und mehr oder weniger große Teile der damit verknüpften Information abrufbar. Mit dieser schlagartigen Exponiertheit des digitalen Archivs steigt auch, so sollte man vermuten, das Interesse an der Provinienz der Objekte, auf die es verweist. Die Objekte unterhalten untereinander eine schier unendliche Kombinationsmöglichkeit von Beziehungen sowie Links zu Diskursen und Praktiken sowohl am Rande der Archive als auch jenseits davon. Der wissenschaftliche Apparat, der sie klassifiziert und verknüpft, kann nur einen Bruchteil dieser Beziehungen abbilden. In ihrer Fragmentiertheit und in dem, was sie auslassen, eröffnen sie daher multiple Assoziationsräume, die sie in zeitlicher und räumlicher Hinsicht mit anderen Objekten und Ereignissen verbinden. Insofern verweisen die Objekte, die das Archiv bevölkern, sowohl auf ein “Davor” als auch auf ein “Danach”, wobei davon auszugehen ist, dass beide Übergänge produktiv sind in dem Sinne, dass sie das Objekt als distinktive Entität und damit als Objekt des Wissens erst erzeugen.
Das Archiv fasziniert daher, es dient seit jeher als Ort der Wahrheitsproduktion. Aber es bereitet auch Unbehagen. Ein Beispiel dafür sind Aufnahmen des Lautarchivs, die in den Jahren 1915-18 im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf bei Berlin gemacht wurden. Welchen Einfluss haben die Umstände, unter denen sie entstanden, auf die Aufnahmen selbst? Kann man sie einfach als Dokumente klassifizieren, die unterschiedliche Sprachen repräsentieren? Oder inwieweit muss man davon ausgehen, dass die Umstände, unter denen sie produziert wurden, selbst bereits in das Objekt Eingang fanden? Welche verborgenen Botschaften enthalten sie? Welche Geschichten erzählen sie? Erzählen sie überhaupt eine Geschichte oder besteht ihre Substanz in einem Schweigen, das erst durch die imaginative Aktivität des Forschers zu einer vermeintlich kohärenten Erzählung gerinnt? Sprechen die Archive über die Objekte als Dokumente einer außerhalb ihrer selbst existierenden Realität oder sagen sie vielmehr etwas über die zur Zeit ihrer Entstehung hegemonialen wissenschaftlichen Praxis aus? Oder beides? Was sind die Konnektoren?
Ein wissenschaftshistorischer Forschungsansatz, der sich der Aufgabe widmet, diesen Verbindungen nachzuspüren, müsste seinen Ausgang in einer kritisch-historischen Reflexion der Forscher- und Verwaltungstätigkeit nehmen und die Rolle des Archivs als Klassifikations- und Ordnungsinstrument und als potentiell von ausserwissenschaftlichen Strömungen kontaminiertes Universum untersuchen. Die geplante Tagung soll diese Fragen zunächst aufwerfen. Sie soll darüber hinaus aber auch Fragen des Zugangs zum Archiv thematisieren und über gegenwärtig kursierende Verwertungsmodelle nachdenken. Zwischen Open Access und proprietären Geschäftsmodellen existieren zur Zeit alle möglichen Mischformen des Umgangs mit dem Content. Es existiert bisher kaum Forschung zu kommerziellen Hintergründen wissenschaftlicher Transaktionen. Es soll daher nicht nur der Frage nachgegangen werden, wie die Objekte in die Archive hineinkommen, welches spezifische Eigenleben sie dort entfalten und welchen Diskursen sie dort unterworfen sind, sondern auch, wie sie zu gegebener Zeit und auf welchen Wegen wieder herauskommen, um in veränderter Gestalt das Licht der Welt zu erblicken.
Leitlinien eines solchen Forschungsansatzes wären somit:
- Eine kritisch-historische Reflexion der Forscher- und Verwaltungstätigkeit
- Die Rolle des Archivs als Klassifikations- und Ordnungsinstrument
- Das Archiv als kontaminiertes Universum
- Die Position des Benutzers, Fragen des Zugangs und der Verwertung
- Welche Dimension gewinnt das Archiv durch die neue webbasierte Zugänglichkeit?
Programm
Die Tagung widmet sich diesen Fragen unter den Gesichtspunkten Wissensorganisation und Sammlungspolitik, Kolonialismus und Archiv, Objekt und Inszenierung, Benutzung und Ökonomisierung sowie Inszenierung und Verwertung und ist in folgende Blöcke unterteilt:
Block 1: Widerspenstige Objekte, moderiert von Jürgen Mahrenholz (Do 10-13 Uhr)
Thomas Schnalke (Charité - Universitätsmedizin Berlin, Medizinhistorisches Museum): Im Inventar des Körpers. Die neue Dauerausstellung des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité
Wolfgang Davis (Staatliche Museen zu Berlin - Generaldirektion/ BesucherDienste, Lehrbeauftragter am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin): Film als Ausdruck von Kultur
Beate Engelbrecht (IWF Wissen und Medien gGmbH, Göttingen): Langzeitsicherung von Filmen - nicht nur eine technische Frage
Block 2: Archive im Wandel, moderiert von Michael Willenbücher (Do 15-17 Uhr)
Susanne Ziegler (Staatliche Museen zu Berlin - Ethnologisches Museum/ Abt. Musikethnologie): Töne, Laute, Stimmen, Sprache, Musik. Zur Sammlungspolitik und Sammlungsgeschichte der Berliner Schallarchive.
Julia Kursell (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte): Kontrollton 435 Hz - Die Experimentalwalzen des Psychologischen Instituts, Berlin, im “Virtuellen Labor”
Block 3: Strategien der Entzifferung, moderiert von Britta Lange (Fr 10-13 Uhr)
Nicole Wolf (Goldsmiths University of London, Department of Visual Cultures): Der Film “Halfmoonfiles” und die Gegenwärtigkeiten der Archive
Astrid Kusser (Universität zu Köln, Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg (SFB/FK 427) “Medien und kulturelle Kommunikation”): Koloniale Unordnung: Postkartensammlungen als Archive populärer Rassismen in den Konflikt- und Fluchtlinien des schwarzen Atlantik, 1890er-1920er Jahre
Wolfgang Ernst (Humboldt-Universität zu Berlin, Seminar für Medienwissenschaft): Die Ambivalenz der Medienarchive: wie die audiovisuellen (und dann digitalen) Archive den klassischen Archivbegriff unterlaufen
Block 4: Lautpolitik, moderiert von Philip Scheffner (Fr 15-17 Uhr)
Lars-Christian Koch (Staatliche Museen zu Berlin - Ethnologisches Museum/ Abt. Musikethnologie): Urheberrecht und die Konstruktion von Identitäten - Gedanken zum Umgang mit wissenschaftlichen Schallarchiven
Raimund Vogels (Hochschule für Musik und Theater Hannover, Musikethnologie): Fragen an das Borno Music Documentation Project (Nigeria)
Zeit und Ort
17./18.1.2008, jeweils 10 bis 13 und von 15 bis 17 Uhr in der Hörsaalruine des Medizinhistorischen Museums der Berliner Charité, Seiteneingang Charitéplatz 1, 10117 Berlin
Abendprogramm am 17.1.2008, 19 Uhr: Screening von “Halfmoonfiles” (Philip Scheffner, 2006) in der Ausstellung “The making of ” und “Bilder verkehren” im Kunstraum Kreuzberg / Bethanien, erreichbar über U1, Kottbusser Tor oder S-Bahn Ostbahnhof
Um Anmeldung wird gebeten - per mail an kabinette (AT) hu-berlin.de
Weitere Informationen und Kontakt: Michael Willenbuecher, Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Humboldt-Universität Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin