Wissenschaftliche Sammlungen

Lautarchiv

Sadok Ben Rachid – „Kriegsgedichte“ Beispielobjekt aus dem Bestand der Phonographischen Kommission

Sadok Ben Rachid aus Monastir in Tunesien, von Beruf „Landarbeiter und Volksdichter“, war 27 Jahre alt, als er 1916 mehrere Lautplatten im Kriegsgefangenenlager in Wünsdorf bei Zossen („Halbmondlager“) besprach. Höchstwahrscheinlich war er ein Soldat jener nordafrikanischen Truppen aus Algerien, Tunesien und Marokko, die Frankreich rekrutierte und bei großen Schlachten in Europa, etwa an der Marne und in Ypern, einsetzte. Die Sprach- und Gesangsaufnahmen von Sadok Ben Rachid gehören zur Sammlung der Phonographischen Kommission, die zwischen 1915 und 1918 in deutschen Kriegsgefangenenlagern 1.650 Lautplatten bespielte. Insgesamt ist seine Stimme auf sieben erhaltenen Tonträgern zu hören. Er trug Vierzeiler (PK 255), Rätsel (PK 256), drei Kriegsgedichte (PK 257) und das Märchen von der keuschen Frau (PK 265, PK 266, PK 267, PK 268) in arabischer Sprache vor.

Tonaufnahme von Sadok Ben Rachid, PK 257

Sadok Ben Rachid sprach und sang als Kriegsgefangener am 30. Mai 1916 vor dem Grammophontrichter im „Halbmondlager“ drei „Kriegsgedichte“ in Arabisch. Er berichtet darin von seiner eigenen Geschichte, von seiner Rekrutierung in Tunesien durch die französische Armee während des Ramadan 1914, von seiner Verwundung in Europa bei einer Schlacht gegen die Deutschen, von seiner Überführung in Kriegsgefangenenlager. Er klagt über seine Behandlung durch die Ärzte und seine Verlassenheit in der Gefangenschaft. Das Gedicht schließt mit dem Ausruf „O mein Gott, hilf mir!“.

Auf der Platte mit der Signatur PK 257 spricht Sadok Ben Rachid die Verse, die er möglicherweise selbst gedichtet hat, anschließend singt er sie in der typischen Form eines arabischen Klagelieds. Die Platte schließt, wie alle anderen Platten auch, mit der Tonpfeife, die den Kammerton in der Höhe von damals 436 Hertz aufspielte.

Weitere Materialien

Sadok Ben Rachids Name, Lebensdaten, Herkunftsort und andere Informationen sind auf dem „Personal-Bogen“ der Phonographischen Kommission verzeichnet, der zu jeder Aufnahme ausgefüllt werden sollte. Ob diese Aussagen stimmen, wurde bisher vom Lautarchiv nicht überprüft. Jedoch konnten Dank der ausführlichen Recherchen von Marie Guérin und Anne Kropotkine der Name und das Geburtsdatum korrigiert werden. Während die Daten auf dem handschriftlich ausgefüllten Personalbogen zu seiner ersten Aufnahme (PK 256) vermerkt wurden, fehlen sie beispielsweise auf dem handschriftlichen Bogen zu PK 257 – hier findet sich stattdessen der Verweis auf PK 256. In der maschinengeschriebenen Fassung, die wohl erst nach dem Krieg entstand, wurden alle Daten übernommen. Die drei Textfassungen, die die Mitglieder der Phonographischen Kommission nach Möglichkeit zu jeder Aufnahme erstellen sollten – eine Niederschrift in der Landessprache, eine phonetische Umschrift und eine Übersetzung ins Deutsche (oder zumindest ins Russische, Englische oder Französische) finden sich nicht in den Unterlagen des Lautarchivs.

Objektbiografie und Bibliografie

30. Mai 1916
Sadok Ben Rachid spricht und singt im „Halbmondlager“ in Wünsdorf in ein Grammophon, wahrscheinlich im Beisein von Wilhelm Doegen und Hans Stumme. Die Tonaufnahme mit der Signatur PK 257 entsteht.
1928
Übersetzung und Veröffentlichung der Aufnahme durch die Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek: „Lautbibliothek. Phonetische Platten und Umschriften“, Nr. 45, Berlin, 1928 – Preußische Staatsbibliothek (Arabische und berberische Dialekte, bearbeitet von Hans Stumme). Darin finden sich eine Niederschrift in Arabisch, eine phonetische Umschrift und eine deutsche Übersetzung mit verschiedenen Anmerkungen. Dass es sich bei dem Sprecher um einen Kriegsgefangenen handelte, wurde in der Broschüre nicht erwähnt.
1999-2007
Digitalisierung der erhaltenen Schellackplatte und Einspeisung in die Datenbank „Kabinette des Wissens“ der HU.
2012
Verwendung der Aufnahme im Begleitbuch zur Ausstellung „Was Wir Sehen“ von Anette Hoffmann. Vgl. Britta Lange: „Was Wir Hören. Aus dem Berliner Lautarchiv“, in: Anette Hoffmann/Britta Lange/Regina Sarreiter: Was Wir Sehen. Bilder, Stimmen, Rauschen. Zur Kritik anthropometrischen Sammelns, Basel: Basler Afrika Bibliografien, 2012, S. 61-78.
2013
Diskussion der Aufnahme bei dem Internationalen Symposium „The World During the First World War – Perceptions, Experiences, and Consequences“ in Hannover (Kooperation der Volkswagenstiftung, des Zentrums Moderner Orient Berlin und des Instituts für Geschichte der Universität Hannover, Herrenhausen) Vgl. Britta Lange: „History and Emotion. The Potentiality of Laments for Historiography“, in: Helmut Bley/Anorthe Kremers (Hg.): The World during the First World War, Essen: klartext, 2014, S. 371-376.
19. November 2014
Julia Tieke verwendet die Aufnahme sowie ein Interview mit Britta Lange für ein Feature auf Deutschlandradio Kultur: „Das Deutsche Kaiserreich und der Dschihad“.
13. Juli 2016
Verwendung der Aufnahmen in der konzertanten Aufführung der Oper „Fidelio“ unter Julien Salemkour in Rems.
Oktober 2016 bis Mai 2017
Die Aufnahme ist über Kopfhörer in der Ausstellung „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ des Deutschen Historischen Museums in Berlin zu hören. Vgl. Irene Hilden: „Schellackplatte mit einem Tondokument des Kriegsgefangenen Sadak Berresid, 1916“, in: Stiftung Deutsches Historisches Museum (Hg.): Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, Darmstadt: Theiss, 2016, S. 197.
Februar 2018 bis November 2019
Nach ausführlichen Recherchen finden Marie Guérin und Anne Kropotkine die Nachkommen von Sadok Ben Rachid. Sie informieren das Lautarchiv über seinen richtigen Namen sowie das korrekte Geburtsdatum. Das Archiv bedankt sich von Herzen für diese wertvollen Informationen. Im November 2019 veröffentlichen sie ein ausführliches Hörspiel auf Deutschland Funk Kultur: Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg. Auf der Spur von Sadok B