Wissenschaftliche Sammlungen

Lautarchiv

Geschichte und Perspektive

Obwohl das Lautarchiv erst im Jahr 1920 als Lautabteilung an der Preußischen Staatsbibliothek gegründet wurde, gehen die Aufnahmen bis auf das Jahr 1909 zurück. Der Sprachlehrer Wilhelm Doegen (1877–1967) hatte in dieser Zeit begonnen, Sprachschallplatten für den Schulunterricht zu produzieren. Als technische Grundlage diente das im Jahr 1887 entwickelte Grammophon als Weiterentwicklung des zehn Jahre zuvor erfundenen Phonographen.

Die Königlich Preußische Phonographische Kommission

Eine erhebliche Erweiterung erhielt Doegens Projekt mit der Einrichtung der Königlich Preußischen Phonographischen Kommission im Jahr 1915, die sich als interdisziplinärer Forschungsverbund unter Leitung des Psychologen und Musikwissenschaftlers Carl Stumpf zum Ziel gesetzt hatte, die Sprachen und die traditionelle Musik der Internierten in deutschen Kriegsgefangenenlagern aufzunehmen. Nach Auflösung der Kommission gelangten die phonographischen Musikaufnahmen in das bereits 1900 von Stumpf an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität zu Berlin) gegründete Phonogrammarchiv, das von Anfang an seinen Schwerpunkt auf Musikaufnahmen gelegt hatte und als erstes Zentrum der deutschen Musikethnologie gilt. Das Berliner Phonogrammarchiv befindet sich heute im Ethnologischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin und beherbergt unter anderem 1030 Musikaufnahmen auf Wachswalzen, die die Phonographische Kommission zwischen 1915 und 1918 in deutschen Kriegsgefangenenlagern aufgenommen hatte.

Ein Aufnahmejournal des Lautarchivs Foto: Irene Hilden
Ein Aufnahmejournal des Lautarchivs Foto: Irene Hilden

Die Lautabteilung an der Staatsbibliothek

Die grammophonisch aufgenommenen Sprach- und Musikaufnahmen aus deutschen Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkrieges wurden als Lautabteilung an der Preußischen Staatsbibliothek zusammengefasst und unter Ergänzung durch Doegens Sprachlernplatten und eine Stimmensammlung berühmter Persönlichkeiten als eigenständige Sammlung statuiert. Die Leitung der Lautabteilung übernahm Wilhelm Doegen, der auf diese Institutionalisierung hingewirkt hatte und die Trennung der phonographischen Musikaufnahmen von den grammophonischen Sprachaufnahmen, unter denen sich auch Instrumentalmusik- und Gesangsaufnahmen befunden haben, zumindest in Kauf nahm. Die Gründung der Lautabteilung im Jahr 1920 kann als Gründung des heutigen Lautarchivs aufgefasst werden. Die Lautabteilung umfasste auch die seit 1917 angelegte Darmstädtersche Stimmensammlung, welche als komplementäres Sammlungsgebiet die Ludwig Darmstädtersche Autographensammlung zur Geschichte der Wissenschaft zur Dokumentation der Stimmen berühmter Personen – vornehmlich männliche* Politiker, Wissenschaftler, Künstler – ergänzte.

Archivschränke des Lautarchivs Foto: Irene Hilden
Archivschränke des Lautarchivs Foto: Irene Hilden

Beide Sammlungsbestände wurden in der Folgezeit systematisiert und erweitert; weiterhin wurden immer wieder Aufnahmen mit Personen in Zwangssituationen wie etwa in Gefängnissen durchgeführt.

Hinzu trat als weiteres Sammlungsgebiet die Dokumentation von deutschen Mundarten. Dazu boten die standardisierten Wenkerschen Sätze eine Textbasis; die Aufnahmeexpeditionen der 1920er Jahre führten durch Deutschland und in die Schweiz, nach Irland und Lettland.

Für alle Sammlungsbereiche lässt sich feststellen, dass ein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika herausgebildetes Ideal des enzyklopädischen Sammelns vorherrschte. Die Erfassung, Dokumentation und Bewahrung stand im Mittelpunkt, um Auswertungen für folgende Generationen zu ermöglichen. Während bei den Stimmen berühmter Persönlichkeiten die Einzelpersonen ins Zentrum gestellt und regelrecht heroisiert wurden, wurde bei den Aufnahmen von Sprachen und deutschen Mundarten die individuelle Person als charakteristisches und typisches Beispiel für eine Sprachgruppe gesehen. Dass vornehmlich nur die Stimmen von Männern* aufgezeichnet wurden – was bei den Aufnahmen in Kriegsgefangenenlagern noch durch den Kriegseinsatz zu erklären ist – ist nur ein besonders offensichtliches Auswahlkriterium, das den Anspruch der Vollständigkeit und Repräsentativität unterläuft.

Überführung an die Berliner Universität

1930 wurde Doegen die persönliche Bereicherung durch den Verkauf von Schallplatten vorgeworfen, ebenso wissenschaftliche Unzulänglichkeit und die antisemitische Beleidigung von Mitarbeitenden. Trotz Freispruches vor Gericht, war seine Position geschwächt. Er wurde zunächst beurlaubt, und im September 1933 nach dem berüchtigten nationalsozialistischen Gesetz zur sogenannten „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in den Ruhestand versetzt. Doegen selbst sah sich im Nachhinein als Opfer seiner antifaschistischen Gesinnung, wobei sich in seinen Publikationen keine Distanzierung zum NS-Regime findet. Vielmehr ist seine Publikation von 1941 durch rassistische Ausfälle geprägt (vgl. Stöcker 2008, 132f).

Bereits 1931 wurde die Verwaltung der Lautabteilung der Berliner Universität übertragen, woraufhin der Afrikanist und Phonetiker Diedrich Westermann 1934 die Leitung der Sammlung übernahm, die er zur Lehr- und Forschungsstätte für Phonetik ausbaute. 1935 wurde sie in die drei Abteilungen Linguistik (Leitung: Diedrich Westermann), Musik (Leitung: Fritz Bose) und Phonetisches Laboratorium (Leitung: Franz Wethlo) unterteilt. Wie bereits im Ersten Weltkrieg geschehen, wurden auch im Zweiten Weltkrieg Kriegsgefangenenlager als Aufnahmeorte genutzt und die Aufnahmetätigkeit bis 1944 fortgesetzt. Während die Aufnahmen der Phonographischen Kommission in Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkriegs insbesondere im Gedenkjahr 2014 bereits intensiv bearbeitet wurden, steht eine ähnlich dichte Auseinandersetzung mit den Aktivitäten des Lautarchivs in der Zeit des Nationalsozialismus noch aus. Nach aktueller Kenntnis gingen im Zweiten Weltkrieg die Matrizen sämtlicher Lautplatten, von denen die heute noch existierenden Schellackplatten angefertigt wurden, verloren.

Das Lautarchiv zur DDR-Zeit

Nach 1945 wurde das Institut für Lautforschung mehrfach umstrukturiert, die grundlegende Strukturreform im Zuge der II. Hochschulreform 1969 führte zur Umbenennung in „Abteilung Phonetik/Sprechwissenschaft“ innerhalb der Sektion „Rehabilitationspädagogik und Kommunikationswissenschaft“. Über die phonetischen Aufnahmen auf Magnettonbändern, die in dieser Zeit angefertigt wurden und die sich bis heute im Lautarchiv befinden, ist vergleichsweise wenig bekannt. Dieser Befund deckt sich mit einer vergleichsweise marginalen historischen Beschäftigung mit Sammlungen der DDR-Zeit, des Weiteren liegen die Aufnahmen noch nicht digitalisiert vor und das Lautarchiv verfügt über keine Digitalisierungsstrecke für diese Tonträger.
Mitte der 1970er Jahre hat der Musikethnologe Jürgen Elsner den Wert der historisch gewachsenen Sammlung erkannt und sich um die Konservierung verdient gemacht. Dieter Mehnert legte nach einer umfangreichen Bestandssichtung in den 1990er Jahren eine erste Bestandübersicht des Lautarchivs vor.

Erschließungen und Nutzungen als historisches Archiv seit den 1990er Jahren

Seit den 1990er Jahren hat das Lautarchiv stetig wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Maßgeblich dafür war die Digitalisierung der Aufnahmen und die Erschließung in einer internetfähigen Datenbank durch Jürgen Mahrenholz, der von 1999 bis 2007 als Kustos der Sammlung fungierte. Die Konzeptualisierung der Archivologie in dieser Zeit wie auch die erhöhte Aufmerksamkeit für Universitätssammlungen bilden Kontexte dieser Entwicklung.

Eine intensive Auseinandersetzung mit einzelnen Aufnahmen erfolgte beispielsweise durch den Filmemacher Philip Scheffner mit seinem Film „The Halfmoon Files. A Ghost Story“ (2007), in dessen Rahmen er einzelnen indischen Sprechende aus dem Kriegsgefangenenlager in Wünsdorf nachging. Die Sprechenden wurden nicht mehr als typische Vertretende von Sprachen gesehen, sondern als historische Personen; erstmals wurde den Inhalten der Aufnahmen und insbesondere persönlichen Äußerungen nachdrücklich Aufmerksamkeit geschenkt. Nutzungsszenarien der Folgezeit rekurrieren nun häufig auf diese Zugänge. Die Beschreibung des Lautarchivs als „Sensible Sammlung“ (Berner/Hoffmann/Lange 2011) in dem Sinne, als dass die Aufsammlung in prekären Konstellationen wie der Zwangssituation von Kriegsgefangenenlagern geschah, veränderte ebenso die Perspektive auf das Lautarchiv wie die Aufmerksamkeit auf die Einschreibungen des technischen Aufnehmens und die damit verbundenen Störgeräusche. Während Wilhelm Doegens programmatischer Ansatz vorsah, ÜBER ‘fremde Völker’ – oder auch über ‘unsere Feinde’ – zu forschen, hat sich in den letzten Jahren der Ansatz durchgesetzt, MIT Menschen aus den jeweiligen kulturellen Zusammenhängen die Aufnahmen zu erschließen, unterschiedliche disziplinäre und kulturelle Blicke produktiv aufeinander zu beziehen.

Abspielen einer Schellackplatte Foto: Irene Hilden
Abspielen einer Schellackplatte Foto: Irene Hilden

Status quo 2022 und Perspektive

Das Lautarchiv ist die einzige Sammlung der Humboldt-Universität, die im Laufe des Jahres 2022 vollständig in das Humboldt Forum auf dem Schlossplatz eingezogen ist. Präsentationen in Ausstellungen sind ebenso in Planung wie Kooperationen mit der musikethnologischen Abteilung des Ethnologischen Museums. Das dort angesiedelte Phonogrammarchiv und das Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin befinden sich nun wieder unter einem Dach. Insbesondere durch die gemeinsame Geschichte im Rahmen der Aufnahmetätigkeiten der Phonographischen Kommission von 1915 bis 1918 werden sich zahlreiche Querverbindungen und Kooperationsmöglichkeiten ergeben.

Ziel der Humboldt-Universität ist es, mit dem Umzug des Lautarchivs ins Humboldt Forum keinesfalls eine Musealisierung der Sammlung vorzunehmen, sondern den Charakter einer Forschungs- und Lehrplattform, die sich in unterschiedlichen Formaten auch einem allgemeinen Publikum öffnet, weiter zu entwickeln.

Ein klimatisierter LKW wird beladen. © Susanna Schulz
Ein klimatisierter LKW wird beladen. © Susanna Schulz

Weiterführende Informationen

Eine umfangreiche Geschichte des Lautarchivs liegt noch nicht vor; wichtige Übersichtsbeiträge, die auch die Verschiebungen der Perspektiven auf das Lautarchiv seit den 1990er Jahren nachvollziehbar machen, sind: Mehnert 1996, Ziegler 2000, Mahrenholz 2003, Stöcker 2008 sowie Lange 2017 (“Archive, Collection, Museum”) (vgl. Publikationsliste auf dieser Website). Eine Chronologie wichtiger institutions- und sammlungsgeschichtlicher Daten findet sich unter dem Reiter „Chronologie“.